Wenn jemand eine Reise tut… – Alexis Tsipras zu Besuch in Berlin
Alexis Tsipras war wieder in Europa unterwegs. Am Dienstag und Mittwoch war er in Berlin zu Gast, zum ersten Mal als griechischer Ministerpräsident. In Gesprächen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, Außenminister Frank-Walter Steinmeier, sowie Vertretern der LINKEN und der Grünen, versuchte Tsipras die Stimmung auszuloten und um Unterstützung für seine Politik zu werben. Die Zeit drängt, denn Griechenland geht das Geld aus. Die dringend benötigten Hilfszahlungen der EU sollen erst fließen, wenn Griechenland konkrete Reformvorschläge zur Überwindung der eigenen Finanz- und Wirtschaftsmisere vorgelegt hat, die den Ansprüchen der europäischen Institutionen genügen. Doch das ist für Tsipras gar nicht so einfach zu bewerkstelligen, schließlich hatte dieser den Wahlkampf mit der Maxime bestritten, der neoliberalen Sparpolitik ein Ende zu bereiten, die die „Troika“ Griechenland aufoktroyiert habe.
Die Stimmung zwischen Deutschland – dessen Regierungsverantwortliche ganz maßgeblich hinter dieser europäischen Sparpolitik stehen – und Griechenland ist äußerst angespannt; Vertreter beider Seiten gingen in den letzten Tagen und Wochen des Öfteren wenig diplomatisch miteinander um. Die nur langsam abklingende Aufregung über den vor einigen Jahren gegen Deutschland gereckten (oder eben nicht gereckten) Mittelfinger des heutigen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis ist nur ein Ausdruck dieser tiefgreifenden Verstimmung. In Berlin waren Merkel und Tsipras merklich um Deeskalation bemüht und warben für einen konstruktiven und vertrauensvollen Umgang miteinander.
Agierte Merkel in Berlin als „Good Cop“? Viele sehen im deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble einen der Hauptverantwortlichen für die schlechte Stimmung zwischen Griechenland und Deutschland. Peter Nowak charakterisiert ihn auf Telepolis als „Bad Cop“, der immer wieder auch öffentlich mit dem „Grexit“, also dem Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro, geliebäugelt bzw. gedroht habe, um die widerborstige griechische Regierung zu disziplinieren. Nachdem nun aber auch die USA vor einem „Grexit“ gewarnt hatten, sei Merkel nichts anderes übrig geblieben, als Schäuble zurückzupfeifen und selbst das Ruder zu übernehmen – und dabei zumindest ein Stück weit auf Griechenland zuzugehen. Nowak wehrt sich aber dagegen, den Konflikt zwischen Deutschland und Griechenland zu personifizieren und auf den Schlagabtausch zwischen „großen Männern (und Frauen)“ zu reduzieren. Es gehe nicht um einzelne Personen, sondern um die Ablehnung bzw. Befürwortung der neoliberalen Austeritätspolitik, die Deutschland befördere und gegen die sich nicht nur die neue griechische Regierung stelle.
Auf dem Blog der Republik macht sich Dieter Spöri Gedanken über Tsipras’ Besuch in Berlin. Dieser habe deutlich gemacht, dass es dem griechischen Ministerpräsidenten gelungen sei, zumindest den Anspruch auf einen alternativen Reformentwurf für Griechenland – neben der bisherigen neoliberalen europäischen Krisenpolitik – im politischen Diskurs zu etablieren. Merkel habe dies (zumindest prinzipiell) anerkannt. Auch wenn es vielleicht nicht so scheine, stehe das bedingungslose Festhalten Deutschlands an der bisherigen Austeritätspolitik vor dem Aus. Der neuen griechischen Regierung sei es durch eine Mischung aus unorthodoxem Auftreten und sachlich-klugem Argumentieren gelungen, die Sinnhaftigkeit der europäischen Sparpolitik in Frage zu stellen und länderübergreifend Zustimmung für ihr Anliegen zu erlangen. Spöri sieht hierin den Anbruch einer europapolitischen Zeitenwende. Merkel stelle dies jetzt vor eine schwierige Alternative: Flexibel einlenken und längst überfällige Kurskorrekturen an der Spar- und Krisenpolitik vornehmen oder den „Grexit“ riskieren.
Robert Misik sieht das anders (zuerst erschienen auf dem Mosaik-Blog). Es habe für Tsipras und sein SYRIZA-Bündnis vielleicht theoretisch die Möglichkeit bestanden, den hegemonialen Block der europäischen Sparbefürworter aufzusprengen, doch dieser Moment sei allem Anschein nach vorüber. Kurskorrekturen an der Austeritätspolitik seien nicht mehr vorgesehen, Griechenland werde weiter geknebelt und drangsaliert. Wer ist Schuld an der Verhärtung der Konfliktlinien? Waren Tsipras und Varoufakis zu fordernd und dreist, wie manche meinen? Oder agierten sie zu angepasst gegenüber den EU-Offiziellen, wie es insbesondere vom linken SYRIZA-Flügel zu hören war?
Misik ist es daran gelegen aufzuzeigen, dass die Dinge nicht so einfach liegen, dass allzu einfache, binäre Dichotomien nicht weiterhelfen, wenn man den momentanen Streit verstehen will. Alle Beteiligten müssen verschiedene Bühnen bespielen, nach innen, nach außen, miteinander und gegeneinander. Dabei verstricken sie sich in Widersprüchen. SYRIZA sei nicht – und könne gar nicht – der weiße Ritter sein, den sich viele europäische Linke wünschten. Mal müssten sie die griechisch-nationalistische Karte bedienen, mal die europäische. Das hätte viele verwirrt und auch enttäuscht, SYRIZA sei nun einigermaßen isoliert und genau hiergegen müsste man angehen, um Lösungen zu finden.
John Ward kartographiert auf The Slog die Verwerfungen die Tsipras’ Reise durch Europa offenbart habe. Er traf sich ja nicht nur mit Merkel sondern auch mit anderen Politikern und Vertretern der EU. Es stände nicht einfach Deutschland gegen Griechenland, auch andernorts täten sich innerhalb der EU Spaltungen auf. Vielen in der EU ginge das von Deutschland und der „Troika“ praktizierte „Führerprinzip“ deutlich zu weit. Frankreich stehe zudem gegen die in Frankfurt angesiedelte Europäische Zentralbank (EZB), Schäuble streite mit Merkel über die Fiskalunion, die EZB liege im Clinch mit der deutschen Bundesbank. Und so weiter und so fort. Ward ist sich bei soviel Streit und Zwist sicher: wir beobachten gerade die Implosion der EU.
„Reisen veredelt wunderbar den Geist und räumt mit all unseren Vorurteilen auf“, so Oscar Wilde. Ob dies auch für diplomatische Reisen im Allgemeinen und den Berlin-Besuch Tsipras’ im ganz Besonderen gilt?